Der berühmte Schweizer Sechstage-Rennfahrer Jean Roth war unser Nachbar. Er hat uns Jugendliche für den Radrennsport begeistert. Wir kauften uns Rennräder und verbesserten sie durch ständig neues Zubehör. Wenn er in Frankfurt trainierte, fuhren wir hinter ihm her und trainierten auch. Wir wollten alle Radrennstars werden.
Für die Sechstagerennen in der Festhalle besorgte er uns Freikarten. Wir waren dabei. Wir schnupperten Rennfahrerluft. Er war unser Idol, nett, freundlich, sympathisch und leistungsstark. Wir wollten auch unsere Leistung durch intensives Training ständig verbessern.
Auch Handball und Tennis als Leistungssport begeistertem mich über viele Jahre.
Ich trainierte so viel, dass ich ab dem 25. Lebensjahr wegen Verschleiß in den Fußzehengelenken diese Sportarten aufgeben musste.
Der Sportarzt, den ich konsultierte, zog seine Schuhe aus und zeigte mir seine ähnlichen Probleme. „Suchen Sie sich einen Sport aus, bei dem Sie Ihre Füße nicht so sehr brauchen.“ Das führte mich zum Reiten. Über viele Jahre machte mir besonders das Ausreiten durch die Landschaft viel Freude. Es ist ein wunderbares Gefühl, auf dem Pferd zu traben und zu galoppieren. Es ging nicht mehr um Leistung, sondern um Freude und Spaß.
So lernte ich, dass es im Sport nicht nur um Leistung gehen muss.
Mit 28 Jahren fing ich mit dem Skifahren an. Wir haben viel trainiert, um einfach gut Ski zu fahren und den Sport richtig genießen zu können. Auch hier ging es mir mehr um die Freude der Bewegung in der Bergwelt. Wenn ich richtig im Flow war, fuhr ich singend die Berge hinunter. „La Montanara“ oder der „Schneewalzer“ waren die bevorzugten Lieder. Sport und Musik, das geht wunderbar zusammen, nicht wahr, liebe Leserinnen und Leser, das wissen Sie.
Man kann also in den Erfahrungsraum Sport eintreten und nicht mehr nur die Leistung im Mittelpunkt sehen, sondern die Freude.
Kaum jemand hat diese Art der sportlichen Übung so genau beschrieben wie Eugen Herrigel in seinemBuch „ZEN in der Kunst des Bogenschießens“ (Otto Wilhelm Barth Verlag 1951):
„Die Technik muss überschritten werden, sodass das Können zu einer nicht gekonnten Kunst wird, die aus dem Unbewussten erwächst. In Bezug auf das Bogenschießen bedeutet dies, dass Schütze und Scheibe nicht mehr zwei entgegengesetzte Dinge sind, sondern eine einzige Wirklichkeit. Der Bogenschütze ist nicht mehr seiner selbst bewusst, als stünde ihm die Aufgabe zu, die Scheibe vor ihm zu treffen. Dieser Zustand der Unbewusstheit wird aber nur erreicht, wenn er von seinem Selbst vollkommen frei und gelöst ist, wenn er eins ist mir der Vollkommenheit seiner technischen Geschicklichkeit. Dies ist etwas vollkommen anderes als jeder Fortschritt, der in der Kunst des Bogenschießens erreicht werden könnte.“
Die Schützen üben jahrelang, um die Mitte der Scheibe mit ihrem Pfeil zu treffen. Das EGO will treffen. Aber solange dieses Ego treffen will, wird es nicht gelingen.
Der Pfeil muss eines Tages ICHLOS davonfliegen, mit einem verklärten Lächeln im Gesicht des Schützen.
„Dieser Zustand, in dem nichts Bestimmtes mehr gedacht, geplant, erstrebt, erwünscht, erwartet wird, der nach keiner besonderen Richtung zielt und dennoch aus unabgelenkter Kraftfülle sich zu Möglichem wie Unmöglichem geschickt weiß − dieser Zustand, der von Grund aus absichtslos und ICH-los ist, wird vom Meister als eigentlich “geistig” bezeichnet … Unterlassen Sie es, an den Abschuss zu denken“, sagt der Meister dem Schüler.
Eugen Herrigel schildert wunderbar bildhaft, damit wir alle, die diese Erfahrung noch nicht gemacht haben, es verstehen, wie es in diesem Sport und eigentlich in jeder sportlichen Übung sein soll:
„Dabei ist alles so einfach. Sie können von einem gewöhnlichen Bambusblatt lernen, worauf es ankommt. Durch die Last des Schnees wird es herabgedrückt, immer tiefer. Plötzlich rutscht die Schneelast ab, ohne dass das Blatt sich gerührt hätte. Verweilen Sie, ihm gleich, in der höchsten Spannung, bis der Schuss fällt. So ist es in der Tat: wenn die Spannung erfüllt ist, muss der Schuss fallen, er muss vom Schützen abfallen wie die Schneelast vom Bambusblatt, noch ehe er es gedacht hat“
Dann erfährt der Schütze den GOLDENEN WIND.
So wird jeder Sport zur Übung für die innere Reifung. Es geht also nicht um Leistung, auch nicht um Begeisterung auf der emotionalen Ebene, es geht um die Erfahrung der geistigen Dimension in unserem Leben durch den Sport.
Wir können uns sicher leicht vorstellen, dass die asiatischen Sportarten wie Judo, Karate, Aikido so praktiziert werden.
Aber jede Sportart kann so praktiziert werden. Diese Erfahrung im Sport bleibt uns aber meistens verschlossen, weil wir um diese Dimension unseres Daseins nicht wissen. Wir haben es vergessen. Mit dem Sport können wir uns das vergessene wieder ins Bewusstsein rufen.
Für mich gelang diese Erfahrung am besten beim Skifahren. Mit der Bewegung ganz EINS werden, jeder Schwung selbst SEIN, nichts denken und nichts fühlen.
Wenn es einfach nur schön ist, bleibt man auf der emotionalen Ebene hängen. Das ist auch in Ordnung, aber die Chance der inneren Reifung ist verpasst.
DÜRCKHEIM hat sich sehr ausführlich mit dem Erfahrungsraum Sport beschäftigt. Aus seinem Buch: „Sportliche Leistung − Menschliche Reife“:
„Sollte es nicht möglich sein, bis in die kleinste Übung hinein, in das Zentrum der Bemühungen anstelle der Leistung den Menschen zu stellen, also statt nur an seine Ertüchtigung zu höchster Leistungsfähigkeit zu denken, mehr auf die Entfaltung und Reifung des ganzen Menschen zu zielen? In dieser Frage meldet sich im Bereich des Sports die gleiche Forderung, die sich heute auf allen Gebieten des Lebens erhebt, wo Menschen im Leistungseinsatz stehen: Die Forderung nach einer Revision des Verhältnisses von Mensch und Leistung.“
Diese Aussage von Dürckheim aus dem Jahre 1986 ist heute aktueller denn je, in einer Gesellschaft mit zweistelligen Wachstumsraten für Depression und Burn-out (siehe Spiegel vom 24.01.2011, „Ausgebrannt− das überforderte ICH“)
Dürckheim weiter: „So stehen einander gegenüber: Sachliche Leistung und menschliche Reife. Nur im rechten Verhältnis zwischen beiden kann menschliches Leben sich fruchtbar erfüllen und der Mensch seiner Bestimmung entsprechen.“
Ich möchte betonen, dass aus meiner Erfahrung Leistung nichts Schlechtes ist. Wir alle sollten Leistungen anstreben und dafür üben. In unserem Leben sind erbrachte Leistungen ganz wichtig. ABER, sie dürfen nicht das Alleinige sein, durch das wir uns definieren. Dann werden wir krank, bis wir es begriffen haben, dass unsere Orientierung zu einseitig war und diese Einseitigkeit des Ich-Bewusstseins die Ursache für unser Dilemma ist.
DÜRCKHEIM führt das auch ganz klar aus:
„Bei aller Kritik an bloßer Leistung kann es sich also nie darum handeln, das Leistungsprinzip als solches infrage zu stellen oder seine Bedeutung für die Erziehung, Ertüchtigung und Bildung des Menschen herabzumindern. Aber die Voraussetzung dafür, dass das Leistungsprinzip segensreich und heilvoll bleibt, ist, dass es nicht zum einzigen Prinzip des Lebens wird und sich absolut setzt, sondern eingebettet bleibt in das Ganze des menschlichen Lebens.
Setzt es sich für das Ganze, dann wirkt es sich heillos in der Welt aus, und der Mensch wird krank. Dann ist aber nicht das Leistungsprinzip als solches Schuld, sondern der Mensch, der einseitig auf Leistung bedacht, sein inneres Wesen und Reifen vergisst. Nicht das Leistungsprinzip verdirbt den Menschen, sondern der Mensch verdirbt das Leistungsprinzip.“
Liebe Leserinnen und Leser, treiben Sie den Sport, der Ihnen Spaß macht, egal wie alt Sie sind. Sport ist für jede Altersgruppe gut.
Üben Sie stetig wie der Bogenschütze die Verbesserung Ihrer Leistung und genießen Sie die Freude an der verbesserten Leistung.
Aber nutzen Sie den Erfahrungsraum Sport auch als Übung für Ihre innere Reifung, ohne die die Leistung freudlos wird und krank macht.
Mit Erschütterung musste ich den Freitod von Robert Enke erfahren, weil er diese Dimension des Menschseins nicht erfahren konnte. Er wusste nicht davon.
Diese Einseitigkeit und Überbetonung hat ihn in den Tod getrieben. Hätte er die Leistung in sein Reifungspotenzial eingebettet gewusst, so würde er heute noch leben.