Anne-Sophie Mutter wird die Saiten ihrer Stradivari nach dem Konzert sicher nicht entspannen. Es würde dem Instrument schaden. Es würde dem Klang schaden. Es würde dem Medium schaden, durch das die Wirklichkeit und Stille Musik werden will. Es schadet also genau dieser Lebensaufgabe einer Stradivari.
Auch für den Menschen kann Entspannung schädlich sein und ihn vom Weg der eigenen Individuation abbringen. Viele Menschen arbeiten unter ständiger Anspannung und behalten diese Spannung bis zum Feierabend, dem Wochenende und dem Urlaub bei. Sie gehen einer ungeliebten Arbeit nach, die so nie ein beseeltes Werk werden kann und führen die Arbeit auch noch in einer ungeliebten Umgebung durch.
Deshalb kann man die Sehnsucht nach Entspannung gut verstehen. Die Anspannung entsteht durch Anstrengung eines leistungsorientierten EGO, das oft der Aufgabe nicht gewachsen ist oder Angst vor dem Versagen hat. Der Grund liegt in der Psyche, der Seele. Auch ein Muskel bringt in der Anspannung dann die höchste Leistung, wenn er vorher scheinbar entspannt ist, wenn er den Wechsel zwischen Anspannung und Entspannung trainiert hat. Man könnte sagen, wenn er gelassen ist. Er ist nie völlig entspannt, er ist immer in einer achtsamen Haltung, jederzeit volle Leistung zu erbringen. Ein verspannter Muskel bringt nur einen Bruchteil an Leistung. Darüber hinaus besteht die Gefahr, dass er reißt. Das ist dann der Burnout.
Die Ursache für die Sehnsucht des Menschen nach Entspannung liegt im EGO, im erstarrten ICH oder in einem zu kleinen ICH. Nur wenn die Transformation des EGO zu einem im SELBST geerdeten Ich vollzogen wird, Schritt für Schritt, Übung für Übung, wird diese Sehnsucht abnehmen. Sie ist nicht mehr erforderlich. Dann ist die Phase der Arbeit wie auch die Phase der Freizeit geprägt durch Gelassenheit und Achtsamkeit.
Man kann sich trotzdem enorm anstrengen und große Leistungen vollbringen, wie der Muskel, und die nötige Spannung aufbauen, die sich dann in der Leistung entlädt. So wirft der SHAOLIN-MÖNCH die Nadel durch die Glasscheibe oder zerschlägt eine dicke Holzplatte. Wir staunen dann und fragen uns, wo denn diese enorme Kraft herkommt.
Es ist die CHI-Kraft oder KI-Kraft. Sie kommt aus dem HARA, wie die Japaner sagen, aus dem Bauchraum unterhalb des Nabels. Erinnern Sie sich, liebe Leserinnen und Leser, daran, wie DÜRCKHEIM mir unerwartet einen Schubs gab und mich aus dem Gleichgewicht brachte. Ich konnte seinen Arm damals nicht runterdrücken, da er seine KI- Kraft in den Arm geleitet hatte. Er war in einem gelassenen und heiteren Zustand. Es hat ihn gar nicht angestrengt. Also „musste er auch nicht anschließend zur Entspannung in den Urlaub fahren“.
Verstehen Sie jetzt, was wir alle so oft in unserem Leben wirklich falsch machen. Eine ganze Industrie lebt gut von unserem Bedarf nach Entspannung. Sie bietet Urlaub, Kreuzfahrten und Unterhaltungsklubs an. Immer Party. Darauf freuen wir uns und zählen die Tage, bis zum Aufbruch in den Urlaub oder zu der nächsten Party. Schade, schade, dabei verpassen wir die Gegenwart und das Erlebnis des Augenblicks unseres Lebens. Nach dem Urlaub hat sich nichts geändert. Das Spiel und der damit verbundene Trugschluss fangen von vorn an.
Das betreiben wir so lange, bis wir krank werden, also unsere Psyche und unsere Physis uns STOPP sagen. Wer Glück und einen guten Führer hat, wird sein Leben ändern. So berichten viele, dass nach einem gesundheitlichen Schicksalsschlag das Leben eine viel bessere Qualität bekommen hat. Adrian Lobe, Journalist aus Stuttgart, schreibt in der Neuen Zürcher Zeitung vom 15.10.10 über die Rituale der urbanen Adoleszenz:
„… Die ‚Generation Party‘ lechzt nach Lustbarkeit − von der betuchten Schickimicki-Clique bis zum einfachen Proletentreffen. Die ‚Eventisierung‘ der Freizeit ist ein gesamtgesellschaftliches Phänomen. Sie durchdringt alle Milieus. Und immer funktioniert sie nach demselben Prinzip − mit Party als Plattform, bei der sich der Drang nach Ausgelassenheit und Freudentaumel Bahn bricht … Im Irrglauben, sich durch permanentes Feiern selbst verwirklichen zu können, werden die Menschen Teil einer Maschinerie, die sie zum Trink- und Tanzvolk degradiert … Endlich Wochenende, endlich Freizeit. Ein Tag ohne losgelöste Stimmung ist ein verlorener Tag … Die Arbeit des Tages − der Tätigkeit im Büro, in Schule und Universität − befriedigt nicht.
Die Jugend will Spaß, Abwechslung, Unterhaltung … Der Partyrausch stillt ein Verlangen nach Wärme … Viele Menschen suchen bewusst diese Nähe und diese Gleichheit, die sie im Berufs- leben, wo man sich unterordnen muss, vermissen. Auf der Party gibt es keine Hierar- chien, keine Vorgesetzten … Die hedonistische Attitüde zeugt gleichwohl von Orientierungslosigkeit … Wer nur die Maximierung des Vergnügens im Kopf hat, besitzt kein politisches Be- wusstsein, schottet sich bewusst gegen eine Wirklichkeit ab, die früher oder später ihr Recht einfordert …“
Viele, die in der Jugend so geprägt werden, behalten auch in späteren Jahren diese Verhaltensweisen bei. Diese Verhaltensweisen ziehen sich heute aber auch schon durch alle Altersstufen durch. Es ist also aus meiner Sicht nicht nur ein Phänomen der urbanen Adoleszenz. Die Ursache für diese Ablenkung und Entspannung vieler Menschen liegt in dem Fehlen geistiger Lebensinhalte der Individuen.
Auch Fernsehen entspannt. Viele Stunden verlieren wir, vor dem Fernseher dahin dösend, um uns zu entspannen. Bei vielen läuft der Fernseher den ganzen Tag. Eine ständige Zerstreuung bis zur Verblödung.
Nach Professor Beyreuther, einem bekannten Alzheimer-Forscher, ist die enorme Informationsflut, die vom Fernseher auf das abgeschaltete, entspannte, dösende Gehirn einwirkt, schädlich und löst negative Entwicklungen aus. Peter SLOTERDIJK antwortete auf die Frage, wie er meditiert:
„Durch Fernsehen. Es ist das äußere Äquivalent zur vollkommenen Stilllegung des Gehirns.“ „Was schauen Sie an?“ „Einfach alles. Ich benutze das Fernsehen als Gleichgültigkeitsmaschine. Ich schaue so lange auf den Bildschirm, bis der gefühlte Unterschied zwischen einem Papstsegen, einer pornografischen Dauerwerbesendung und einem Bericht über die Fauna von Ma- dagaskar gegen Null geht. Dann ist der Zustand erreicht, in dem das Gehirn bereit ist, sich für ein paar Stunden von der Weltzurückzuziehen.“ (Interview: STERN 2/2010)
Dieser Empfehlung kann man nur vehement widersprechen. Das ist die Art der Ablenkung, Entspannung und Zerstreuung, die leider jegliche Art von der Achtsamkeit für den Augenblick, die in den Erfahrungsräumen durch mühsame stetige Übung aufgebaut wurde, zerstört. Ich erinnere an die Aussage von Rosemarie SACK-DYCKERHOFF im Gespräch über den Erfahrungsraum Kunst:
„Frieden bedeutet in diesem Sinne nicht Entspannung oder Schlaf, sondern eine innere SAMMLUNG IN ACHTSAMKEIT. Das ist eine AKTIVE Haltung.“
Bei der Meditation ist das Gehirn eben überhaupt nicht abgestellt, ganz im Gegenteil. Wir denken und fühlen zwar nicht mehr, aber sind außerordentlich offen und konzentriert für das Hintergrundfeld und seine Potentialität. Über die Untersuchung der Gehirntätigkeit der Meister während der Meditation habe ich in diesem Buch berichtet.